Der Abgrund

ein plakat spricht für sich selbst! Berlin 2015
ein Plakat spricht für sich selbst! Berlin 2015

Ein interaktiver Text zum Thema ‚Abgrund‘. Dieser ist für die Zeitschrift „Fliegenklatsche“ entstanden.

Tja, hmmm… der Abgrund also, wie? Puh! Ähm. Naja, so ein Abgrund… naja, der ist… der hat schon etwas recht Abgründiges, so ein Abgrund. Womit ich ihm natürlich keineswegs zu nahe treten möchte. Ähähähä!
    Tatsache ist jedenfalls, dass so ein Abgrund einen ‚Ab‘ und einen ‚Grund‘ hat. Das wäre ja schon mal Etwas… was man dann hat.
    Tja, das wäre dann schon so ziemlich Alles, was es darüber zu sagen gibt, beziehungsweise, was ich darüber zu sagen wüsste… Naja… Hmmm… Ähm…
     Hübsch hier!
     Ähm… äh!
Oh mein Gott! Was zur Hölle ist denn das für ein Ding, da hinter Ihnen…!

Welche Abgründe so ein Zombie hat, das weiß ich nicht. Aber vielleicht ist er selbst Einer, für diejenigen, die ihm in einer dunklen Seitenstraße begegnen.
Welche Abgründe so ein Zombie hat, das weiß ich nicht. Aber vielleicht ist er selbst Einer, für diejenigen, die ihm in einer dunklen Seitenstraße begegnen.

Einleitung

Ungeachtet des Umstandes, dass der Trick wirklich uralt ist, ist es doch immer wieder erstaunlich, wie oft er trotzdem funktioniert. Fangen wir also noch mal ganz von Vorn an. Dieses mal hübsch geordnet.
    Zunächst einmal die Definition. Sie lautet wie folgt: was in die Tiefe hinab führt / was ohne Grund ist.
     Soweit dazu. Sie haben es sicher alle bemerkt. Da hat der Definator aber mal einen schwungvollen Tritt in den schönsten Haufen Hundeexkremente getan. Denn, wie mein Vorredner schon so eloquent zu verdeutlichen wusste, das Wort selbst enthält den Terminus ‚Grund‘, und es dann als Etwas zu definieren, das ohne Grund ist, lässt einen doch sehr am Erkenntnisvermögen der betreffenden Person zweifeln. Es sei denn, er oder sie meinte Etwas, das ohne einen triftigen Grund existiert. Aber das wäre doch wohl sehr weit hergeholt und zu abstrakt, für eine so simple Definition. Oder ich irre mich total und der Grund wird im Wort verwendet, um ausdrücklich auf sein Fehlen hinzudeuten. Ich gehe jedoch nicht… ähm, sehr davon aus*.
     Lassen Sie mich dem oben genannten missglückten Versuch einer Definition, meine Eigene entgegenstellen. Sie ist etwas umfänglicher, aber dafür ist das Thema danach erschöpfend behandelt, oder verfehlt. Das bleibt ganz Ihrem wohlmeinenden Urteil überlassen, werter Leser. Sie sehen heute übrigens hinreißend gut aus. Haben sie abgenommen? Oh ja, das sieht man. Wussten Sie eigentlich, dass ich Sie schon immer für sehr intelligent gehalten habe?

In der Weite des Alls liegt der Abgrund egal in welche Richtung. Die gute Nachricht ist, egal welche Richtung, führt auch von ihm weg. Griechenland 2015. Kithira Nacht
In der Weite des Alls liegt der Abgrund egal in welche Richtung. Die gute Nachricht ist; egal welche Richtung, führt auch von ihm weg. Griechenland 2015. Kithira Nacht

Der ‚Abgrund‘ ist im eigentlichen Sinne eine philosophische Metapher. Etwas auf dessen vertikalen Verlauf eine horizontale Endgültigkeit folgt, die in jedem Fall negativ besetzt ist. Er wird im Allgemeinen, nach einem entsprechend langen Fall aus unbestimmter Höhe, mit der Aussicht auf einen sehr harten, bis sehr tödlichen Aufschlag assoziiert. Soll heißen: Wenn sich vor einem ein Abgrund auftut, ob im Leben oder der mentalen Verarbeitung eines lebensbezogenen Themas, ist man nur selten geneigt „Jippie!“ oder „Juchu!“ zu rufen. Es sei denn die Überlegung, oder das Leben halten den Abgrund für Jemanden bereit, den man gar nicht, oder sehr gut kennt… und der es echt verdient hat. Dann wäre „Jippie!“ und „Juchu!“ natürlich durchaus eine Optionen.
    Ich glaube, ein Bergsteiger wird sich höchstwahrscheinlich nie in folgender Weise äußern „Dort vorn, an des klaffenden Abgrunds Schlund, nehmwa die überhängende Steigung zum Basislager zwee und kieken ma, ob uns die Andan wat zu futtern übrichjelassen ham!“ Und ganz sicher würde er auch darauf verzichten, dabei eine theatralische Geste zu machen – ungefähr so – und den Abgrund unheilschwanger zu betonen. Und auch das Wetter unterließe es höchstwahrscheinlich, an diesem Punkt einen grollenden Donner rumoren zu lassen. Was natürlich einigermaßen schade ist! Ich glaube Bergsteiger unterscheiden in erster Linie Schluchten, Felsgrate, Steigungen, Spalten, abfallendes Gelände, Steilhänge, Berge und Täler voneinander. Zum Abgrund werden diese erst, wenn man über der Tiefe hängt und Derjenige, der die Sicherungsleine hält, Aussagen formuliert wie etwa „Was passiert wohl, wenn ich diesen Splint hier entferne!“ oder „Was ist das eigentlich, wenn ich so ein heftiges Stechen in der Brust habe, das so ein bisschen in den linken Arm ausstrahlt?“ Nur so wird ein kleiner Kletterausflug an der frischen Luft, zum dramatischen Überlebenskampf über dem Abgrund. Kurz gesagt: der Abgrund findet in unser Psyche statt. Denn Geschehnisse sind nur Geschehnisse, aber unser Denken kann sie zu etwas ganz Anderem machen, zu unserer ganz persönlichen Hölle der Angst.

Die Abgründe mangelnder Empathie in Verbindung mit der total bescheuerten menschlichen Eigenschaft, absolut dämliche Dinge weiter zu tun, nur weil vor ihnen schon sehr viele Andere die selben dämlichen Dinge getan haben. Deswegen ist es auch ein Bild abgrundtiefer Dummheit, da sie für sich so, die Sache mit der Sache selbst rechtfertigen. Madrid, Spanien 2015
Die Abgründe mangelnder Empathie in Verbindung mit der eher fragwürdigen menschlichen Eigenschaft, absolut sinnlos-grausame Dinge weiter zu tun, nur weil vor ihnen schon tausende Andere die selben sinnlos-grausamen Dinge getan haben. Es ist daher auch ein Bild abgrundtiefer Dummheit, da es ein Paradebeispiel für eine Tautologie darstellt, was bedeutet, dass sie für sich so, eine Sache mit der Sache selbst rechtfertigen. Madrid, Spanien 2015

     Das ist nämlich der Knackpunkt. Komplizierter werden die Dinge erst, wenn es um die inneren Abgründe eines Jeden von uns geht. Denn genau genommen gibt es gar keine Anderen.
   Aber immer mit der Ruhe! In solchen Fällen helfen die ordnenden Eigenschaften von Kategorien. Jetzt mag der Eine oder Andere einwenden, das sei eine vornehme Umschreibung für ganz banales Schubladendenken. Darauf kann ich nur folgendes erwidern: Das mag tatsächlich so sein. Ich mag Schubladen eben. Es gibt nichts auszusetzen an Schubladen. Man kann seine Socken und Unterhosen darin aufbewahren. Und das ist doch schon mal was!
___Wie dem auch sei… Meine Lieblingskategorie in dieser Hinsicht ist natürlich die künstlerische Gestaltungsform. In der Literatur, im Film und im Theater ist der Abgrund allgegenwärtig. Das hängt vor allem mit der Notwendigkeit zusammen, die Geschichten, die dort erzählt werden, dramaturgisch aufzuwerten. Denn was macht einen Roman, eine Komödie oder ein Drama überhaupt erst interessant? Immer nur das simple Prinzip des Konflikts. Ohne Konflikt ist alles nur eine zufällige Abfolge von Ereignissen, ein endloser Strom gleichförmig eintöniger Vorkommnisse. Der Abgrund in uns, macht unsere Geschichten erzählenswert. Ohne unsere Abgründe sind wir einfach nur langweilige Personen, die langweilige Tatsachenberichte abliefern. Nicht umsonst lügen die meisten Leute nicht, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, sondern sie erfinden Geschichten, um als interessant zu gelten.
     Friedrich Nietzsche hat zum Abgrund wohl den denkwürdigsten Satz verfasst und ihm damit sozusagen ein Denkmal geschaffen. „Wenn du lange genug in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Jeder, der mal deprimiert war, kann etwas mit diesem Satz anfangen. Und, mal ehrlich, wer von uns war noch nie deprimiert? Dieser Satz allein kann, bei entsprechender Veranlagung, eine seichte Melancholie in eine ausgewachsene depressive Phase ausarten lassen.

Urbaner Abgrund aus der Perspektive eines Selbstmordkandidaten. Paris, Eifelturm 2015
Urbaner Abgrund aus der Perspektive eines Selbstmordkandidaten. Paris, Eifelturm 2015

     Womit wir schon wieder beim Seelenleben des Menschen wären. Denn dessen psychische Entsprechung eines Abgrundes, ist natürlich die Depression. Jeder der schon mal Eine hatte, wird sich wünschen, das nicht noch mal durchmachen zu müssen. Nicht alle haben das Glück, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht. Aber abgesehen von all ihren unangenehmen Eigenschaften, hat sie doch einen Effekt an sich, der in höchstem Maße interessant ist: So eine Depression nimmt dir sehr Viel. So zum Beispiel die Lust zu leben, Freude, Hunger, den Antrieb für Dich selbst zu sorgen, oder auch nur das Bett zu verlassen. Aber sie gibt Dir auch Etwas. Eine einzige Sache – und zwar Erkenntnis. Die Erkenntnis von der Sinnlosigkeit aller Dinge. Das mag sich für Sie extrem deprimierend anhören. Ist es aber eigentlich nicht. Es ist so befreiend, wie eine letzte Gewissheit. Wie eine Ahnung von ultimativer Freiheit. Selbst der eigene Tod wäre irrelevant. Warum sich also umbringen? Hat ja doch keinen Sinn… Und dann, wenn man sich aus dem Sumpf der Depression und Selbstzerfleischung wieder heraus gearbeitet hat, ist es diese Erkenntnis, die bleibt. Sie ist im Leben immer ein nützlicher Begleiter. Sie rückt die Dinge in ein geordnetes, emotionsloses Licht, so dass man, ohne von Chaoshormonen gesteuert zu werden, Entscheidungen treffen kann, die getroffen werden müssen. Sie hilft die Realität so zu sehen, wie sie ist, ohne die Eintrübungen von inneren Überzeugungen, die einem weismachen wollen, dass sie anders beschaffen sein müsste. Außerdem hilft sie in Unterhaltungen mit lästigen Klugscheißern, den besten aller Gesichtsausdrücke aufzusetzen, den man in  Unterhaltungen mit Klugscheißern aufsetzen kann. Ein Gesichtsausdruck, der jede dieser selbstgefälligen, kleinen Pappnasen aus der Haut fahren lässt, oder sie zumindest sehr nervt – was ja auch seinen Reiz hat. Glauben Sie mir, ich weiß wovon ich rede; ich bin selbst ein Solcher. Dieser mimische Zaubertrick ist einer meiner persönlichen Favoriten und rangiert gleich hinter „Ach! Ist das so?!“ (mit einem herablassenden Halblächeln vorgetragen) und heißt: Ich weiß mal was, was du nicht weißt! (Nur nonverbal anwendbar.) Das ist die ins Gesicht gefaltete Versinnbildlichung dieser Erkenntnis.
    Wenn Sie wissen wollen, wie Sie diesen Gesichtsausdruck hinkriegen können, erkläre ich es Ihnen kurz: Stellen Sie sich vor einen Spiegel und denken ganz fest an folgenden Satz Jetzt haltet alle mal die Klappe – Ich habe recht!!! … Nun ziehen Sie eine Augenbraue leicht nach oben, lassen Ihren Mund ein schmales, sarkastisches Lächeln umschmeicheln, dann kneifen Sie die Augenbrauen zusammen und ziehen die Lider spöttisch nach oben. Und jetzt nicken Sie langsam und ein wenig zu melodramatisch mit dem Kopf, wie es nur ein echter Besserwisser kann. Est voila! Sehen Sie? So einfach geht`s. In Verbindung mit „Ach, ist das so?!“ ist er sogar noch viel wirkungsvoller.

Kapitel 1

Da wir jetzt gemeinsam und in groben Zügen geklärt haben, was es mit so einem Abgrund auf sich hat, können wir nun haarklein auseinanderklamüsern, welche Variablen und Unterkategorien die Abgründe unserer Psyche denn nun haben.
     Da hätten wir z.B. die abgrundtiefe Enttäuschung gegenüber Allem was existiert, den abgründigen Humor; die Abgründe Menschlicher Dummheit; grottenschlechte Musik∗∗, Angst vor Abgründen; abgründiges Schweigen; nah am Abgrund gebaute Häuser; immer nah am Abgrund balancieren; ein abgründiger Mensch sein; vor einem finanziellen Abgrund stehen usw. Sie merken: Bei genauerer Betrachtung, sind das alles nur erweiterte Metaphern. Und noch genauer betrachtet ist mit der Einleitung schon alles gesagt, was es darüber zu sagen gibt.

Queen. Eine der schrecklichsten Rockgruppen der Welt.
Queen. Eine der schrecklichsten Rockgruppen der Welt.

     Kommen wir deshalb nun zum interaktiven Teil des Textes.
Ihre Aufgabe ist es jetzt, sich hinzusetzen und dreißig Seiten darüber zu schreiben, warum man mit Metaphern sparsam umgehen sollte. Was Sie dann damit anfangen, bleibt ganz Ihnen überlassen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

P.s.: Sie sehen übrigens blendend aus!

Michael Körner

∗ Andererseits muss man die Möglichkeit, dass man sich irren könnte, selbstverständlich jederzeit und unbedingt in Erwägung ziehen. Sonst braucht man sein Gehirn gar nicht erst zu bemühen. Dann reicht es, es einfach im DOS-Modus laufen zu lassen. Es gibt sogar Leute, die kommen wunderbar ganz ohne aus.
∗∗ Entschuldigung! Die ist mir so rein gerutscht.